19. Berliner Zahnärztetag

12.02.2005

19. Berliner Zahnärztetag markiert Wendepunkt im zahnärztlichen Selbstverständnis „Interdisziplinär mit der Medizin in die Zukunft“

Presseinformation der Zahnärztekammer Berlin vom 12. Februar 2005

„Möglicherweise, so wage ich mit aller Vorsicht zu behaupten, bedeutet dieser Berliner Zahnärztetag eine Art Wendepunkt im zahnärztlichen Denken und im zahnärztlich-ärztlichen Selbstverständnis“ – mit diesen Worten eröffnete Dr. Wolfgang Schmiedel (Foto), Präsident der Zahnärztekammer Berlin, den überfüllten 19. Berliner Zahnärztetag am 11. Februar 2005 im Ludwig-Erhard-Haus der IHK Berlin. Mit weit über 1000 registrierten Teilnehmern kamen erheblich mehr Fortbildungsinteressierte als erwartet. Vor allem die hohe Zahl an Zahnärzten überraschte die Veranstalter, da Fortbildung mittlerweile ein schwer kalkulierbares und oft auch schlecht nachgefragtes Gut geworden ist. So war der veranstaltende Quintessenz-Verlag auch in eine im Hinblick auf die Kapazität kleinere Stätte als das zuletzt meist zu große ICC mit der Konsequenz gezogen, dass diesmal die Plätze in den Sälen der IHK nicht ausreichten. Das Thema und das Programm trafen offenbar voll den Bedarf in den Praxen – und betonten eine neue Art Fortbildung: Zahnmedizin ist weniger denn je eine Wissenschaft für sich, sondern steht im engen Verbund mit der Medizin, nicht zuletzt mit Orthopädie und Neurologie, mit Psychologie und auch Physiotherapie. Den von Prof. Dr. Georg Meyer und Prof. Dr. Wolfgang B. Freesmeyer gestalteten Kanon an Vorträgen belieferten daher nicht nur zahnmedizinische, sondern auch medizinische und psychologische Referenten mit Inhalten. Die allseits gelobte Eröffnungsveranstaltung, neu konzipiert und auf den Mittag gelegt, lieferte mit viel aufgeschlossenem Sachverstand, Berufspolitik, aber auch Humor den athmosphärischen Boden für die nachfolgenden Fachbeiträge.

Wunschthema der BerlinerZahnärzte: Funktionsdiagnostik und -therapie
Es mache ihn stolz und glücklich, so Dr. Schmiedel, dass die Zahnärzteschaft mit der Wahl dieses Themas für den 19. Berliner Zahnärztetages nicht die Kosmetik, sondern die Medizin in den Vordergrund ihrer Fortbildung gestellt hatte – bei einer zuvor durchgeführten Umfrage plädierte jeder zweite Berliner Zahnarzt für ein solches Fachthema. „Diagnostik und Therapie von Funktionsstörungen des cranio-mandibulären Systems mit ihren Anfängen vor knapp einhundert Jahren hat derzeit ganz erheblich an Bedeutung gewonnen“, betonte Dr. Schmiedel, es sei unter anderem Professor Freesmeyer (Foto) zu verdanken, dass die DGZMK im Jahre 2003 mit ihrer Stellungnahme den Kollegen in Praxis und Klinik, aber auch den Gutachtern und Erstattungsstellen einen aktuellen fachlichen Orientierungsrahmen an die Hand gegeben habe. Hinzu komme, dass die DGZMK erstmals die konsiliarische Einbeziehung verwandter medizinischer Berufsgruppen ausdrücklich anerkenne – das schaffe den inhaltlichen und auch rechtlichen Rahmen für Überweisungen an einen ärztlichen Kollegen oder an einen Physiotherapeuten: „Damit ist die Erfordernis einer engen Verzahnung zwischen Zahnmedizin und Allgemeinmedizin erkannt und der notwendigen interdisziplinären Therapie der Weg bereitet worden.“ Dies ermögliche mehr Hilfe für die erschreckende Zunahme von Patienten mit Myoarthropatien . Ganz sicher trage auch eine sich in globaler Veränderung befindliche, auf Wettbewerb, Rationalisierung und Profit ausgerichtete Gesellschaft dazu bei, dass Ängste und Perspektivlosigkeit von Menschen dazu führt, dass „diese irgendwann nicht mehr „funktionieren“, ein schreckliches Wort für die Beschreibung menschlicher Verhaltensstörungen.“

Positionen zur Stellungnahme des Wissenschaftsrates
„Ich bin außerordentlich dankbar“, so Dr. Schmiedel, „für die klaren und gleichlautenden Stellungnahmen sowohl des Präsidenten der Bundeszahnärztekammer, als auch des Präsidenten der DGZMK, welche die teilweise sehr kritischen Bemerkungen des Wissenschaftsrats als Chance verstanden haben, die Effizienz von Forschung und Lehre an den nationalen Hochschulstandorten erheblich zu verbessern.“
In allernächster Zeit werde man vom Entwurf einer vom gesamten Berufsstand weitestgehend abgestimmten neuen Approbationsordnung hören, die in Richtung einer interdisziplinären und somit modernen Medizin ausgerichtet sein werde. Dass damit nicht auch die Finanzierung abgesichert ist, betonte Mitveranstalter Dr. Jörg Peter Husemann von der KZV Berlin. Die Anzahl der Kiefergelenkspatienten nehme zu, die Diagnose sei extrem zeitaufwändig, Zeit koste Geld und dieses sei im Kassenbudget nicht vorhanden. Er sah in dem Umstand, dass es sich bei Kiefergelenkserkrankungen „um ein lupenreines GOZ -Thema handelt“ den Hauptgrund dafür, warum dieses Thema bei Zahnärzten und Patienten nicht so populär sei. Dem widersprach heftig Prof. Meyer (Foto), der nicht einsehen mochte, warum Blutdruckmessung beim Arzt von der GKV bezahlt werde, nicht aber die Basisdiagnostik von Funktionsstörungen – „aber ich will mich da lieber nicht aufs berufspolitische Glatteis begeben.“ Er begrüßte das Papier des Wissenschaftsrates, forderte von dieser Institution aber auch eine Verbesserung der Voraussetzungen für eine häufig kritisierte, nicht zufriedenstellende Forschung: „Die Ausstattung der Hochschulen für Forschung ist denkbar schlecht und ich muss beobachten, dass die ersten pfiffigen Kollegen bereits das Land verlassen.“ Forschung brauche mehr Freiraum und die Hochschulen keine Abschläge auf Leistungen durch die Kostenträger. Wenn Politik und Wissenschaftsrat die Voraussetzungen dafür schaffen, könne die Wissenschaft die Vorgaben des Rates leicht erfüllen. Er habe sich sehr gefreut über das Berliner Umfrageergebnis zum Zahnärztetag: „Die Kollegen haben es verstanden, dass wir unseren Beruf interdisziplinär auffassen müssen“, meinte er, und drückte sein Unverständnis darüber aus, dass bei der Ausbildung der Mediziner nach der neuen Approbationsordnung nicht eine einzige Stunde Zahnmedizin mehr zur Ausbildung gehöre: „Wir sind formal da gar nicht mehr mit drin!“ Das mache ihm Angst, wo doch die Zahnmedizin gerade anfange, sich interdisziplinär zu verstehen und auch so zu handeln. Interdisziplinäre Kongresse seien eine Möglichkeit, den eigenen Berufsstand in die Medizin einzubringen, die Funktionslehre sei dabei bestens geeignet, interdisziplinäre Türen zu öffnen.

Ausschnitte aus dem fachlichen Programm:

Kauen geht auf die Wirbelsäule
Kauen sei ein komplexer Prozeß, betonte OA Dr. St. Kopp (Universitätsklinikum Jena) in seinem Beitrag zu „FTD in der Kieferorthopädie“ – bis hin zur Wirbelsäule seien viele Körperbereiche beteiligt, was verdeutliche, welche Rolle der Mund und seine Funktion für den ganzen Körper spiele. „Wenn Sie die Okklusion verändern, verändert sich der Spielraum der Wirbelsäule in rund 5 Minuten!“ Bei manchen Störungen müssten auch Logopäden bzw. Physiotherapeuten mit manueller Therapie hinzugezogen werden. Auch Fußreflexzonenmassage könne bei Verspannungen hilfreich sein – man möge alles einsetzen, was man beherrsche, um dem Patienten seine Situation zu erleichtern.

Rund jeder 5. Totalprothesenträger mit CMD
Obwohl die Kernpatientengruppe bei FTD zwischen 20 und 40 Jahren alt sei, gebe es auch eine erhebliche Anzahl älterer Patienten mit entsprechenden Störungen, darauf machte PD Dr. Ingrid Peroz (Charité Berlin) aufmerksam. In dieser Altersgruppe überwiegen Untersuchungen zufolge die Kiefergelenksgeräusche vor anderen Störungen, die Anpassungsfähigkeit des Gelenkes könne sich im Laufe der Zeit erschöpfen. Rund 15 – 20 % aller Totalprothesenträger zeigten craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD), vor allem Pressen spiele eine Rolle und in der Folge Kopfschmerzen. Ursache seien meist schlecht sitzende Prothesen. Bei Hörstörungen und Tinnitus solle man überprüfen, ob das Kiefergelenk involviert sei – hier sei die Zusammenarbeit mit einem HNO-Arzt unumgänglich. Wann immer das Kiefermodell zusammenpasse, nicht aber der Kiefer selbst müsse man nach den Ursachen suchen. Rund 5 % der Bevölkerung leide unter rheumatoider Arthritis – auch das Kiefergelenk könne aufgrund der durch Flüssigkeit vergrößerten Gelenkkapsel versteifen. Hier sei Physiotherapie hilfreich. Ältere Patienten kämen oft als ‚Kompaktpaket’ in die Praxis – Dr. Peroz warne eindringlich davor, ohne Beachtung möglicher Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten Therapeutika wie Diclofenac zu verordnen. Man möge auch umsichtig bei der Überlegung „Schiene“ sein – sie sei nicht in jedem Fall eine Hilfe, in manchen Fällen seien Psychotherapie oder Medikamente oder gar invasive Eingriffe erfolgreicher.

Manchmal muss ein Orthopäde ins Therapieteam
In nicht wenigen Fällen sei die Zusammenarbeit mit einem Orthopäden notwendig, betonte PD Dr. M. Oliver Ahlers (Universitätszahnklinik / Hamburg), und empfahl einen Screening-Bogen, den sein Institut entwickelt habe. Damit würden Initialdiagnose (mit der Konsequenz für die zahnärztliche Therapie), Nebendiagnosen (mit konsiliarischer Einbeziehung z.B. von Physiotherapeuten) und Differentialdiagnosen (mit Blick auf mögliche andere Ursachen) erheblich erleichtert . Zahnärztliche Kunst erschöpfe sich wenn ein Beckenschiefstand zu einer Fehlstellung der Halswirbelsäule mit Einflüssen auf den Kopfbereich führe – hier sei die Mitbehandlung durch einen Orthopäden unumgänglich. Auch der umgekehrte Fall werde diskutiert, dass CMD Auswirkungen über die Nackenmuskulatur hinaus auf den gesamten Halteapparat haben könne. Die Zusammenarbeit von Zahnarzt, Orthopäde und Physiotherapeut habe auch bei klinischen Fällen zu großen erfolgen geführt. Er empfahl Zahnärzten, die im Bereich FTD arbeiten wollen, sich feste Ansprechpartner aus den Bereichen zu suchen, z.B. per Rundbrief – es erleichtere die Therapie für den Behandler, wenn sich das interdisziplinäre Team kenne und fachlich verstehe, aber auch für den Patienten, der sich aufgehoben fühle. Wer Sorgen habe, seinen „Patienten vom Orthopäden nicht mehr zurückzubekommen“, könne seinem Patienten einen „Konsiliarbogen“ mitgeben, der mit den Befunden des eingeschalteten Mediziners zurückgebracht werde. „Alle schaffen wir manches“, so Dr. Ahlers, „aber zusammen schaffen wir viel mehr und vor allem: Es macht mehr Spaß!“

Trugschluß: Bei großen Schmerzen mehr Compliance
Die Annahme, dass die Compliance um so besser sei, wenn der Schmerz groß ist, sei ein Trugschluß, sagte Psychologe Dr. Thomas Schneller (Med. Hochschule / Hannover) – Untersuchungen hätten gezeigt, dass vor allem das Verständnis für die Zusammenhänge der Erkrankung und die geplanten Behandlungsschritte dazu führten, dass Patienten die verabredeten Maßnahmen einhielten. Non-Compliance könne auch daher kommen, dass Patienten zwar klinisch Krankheitssymptome zeigten, nicht aber unter diesen leiden und entsprechend keinen Therapiebedarf sehen. Häufig würden Ärzte ihre Patienten hinsichtlich deren Compliance deutlich überschätzen. Die Mitarbeit des Patienten und die ihm ermöglichte Eigenverantwortung, auch durch das ihm vermittele Verständnis für die Behandlung, spielten eine bedeutende Rolle bei der Compliance-Förderung. Zahnärzten, die psychosomatische Anzeichen erkennen, aber Sorge haben, die Patienten darauf anzusprechen, empfahl er die sehr erfolgreiche Taktik in seiner Klinik: „Wir sagen immer: In Fällen wie dem Ihren arbeiten wir routinemäßig mit einem Psychotherapeuten zusammen.“ Es sei sinnvoll, für solche Fälle einen festen Adressaten aus dem Fachgebiet zu haben, mit dem man regelmäßig zusammenarbeite. Möglicherweise sei es für Zahnärzte tröstlich, dass eine neue Berliner Studie zu den Therapie-Erfolgen der Schmerzsprechstunde an der Charité zeige, dass die Compliance bei den Psychologen mit rund 50 % auch nicht besser ausgefallen sei als bei den Zahnmedizinern, wo es eine vergleichbare Erfolgsquote gab. Je früher man mit einer psychotherapeutischen Kooperation beginne, desto hilfreicher könne diese sein – für Patienten sei es äußerst schwierig, über einen langen Zeitraum Eigeninitiative aufbringen zu müssen. Eine Therapie müsse auch zur Persönlichkeit des Patienten passen – das erhöhe die Compliance und diene nicht nur dem Patienten, sondern auch dem Zahnarzt.

Kosten als Barriere?
Auch das Thema Kosten spiele eine Rolle, meinte Dr. Schneller: „Für viele Patienten ist das Thema Kosten eine Barriere – ebenso hoch wie ein Arzt unter Zeitdruck.“ Andere Erfahrungen machte Dr. Ahlers: Wenn ein Patient das Gefühl habe, da kümmere sich einer um ihn, sei das Thema Kosten nicht mehr so wichtig. Man müsse einkalkulieren, dass ein hinzugezogener Orthopäde rund eine halbe Stunde Praxiszeit investiere. Einer US-Studie zufolge sei das Thema Geld für die meisten Patienten gar nicht so wichtig – entscheidend seien weiche Faktoren wie die Umsetzbarkeit der Therapie und dass der Patient sich wohl und umsorgt fühlt. Das steigere die Compliance und den Erfolg der Therapie und degradiere das Thema Kosten häufig zu einer Nebensache.
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