16.02.2006

20. Berliner Zahnärztetag: „Endodontie heute“ - Ein Thema kommt aus dem Abseits

Presseinformation der Zahnärztekammer Berlin vom 16. Februar 2006

Beim 20. Berliner Zahnärztetag drängte ein zahnmedizinisches Thema nach vorn, das in den letzten Jahren oft im Abseits stand: die Endodontie. Die Situation des Faches ist keineswegs nur eine Einschätzung von außen: „Die Endodontologie ist wohl oft zu bescheiden aufgetreten“, sagte Prof. Dr. Claus Löst, Experte im Thema und einer der beiden wissenschaftlichen Leiter des Berliner Zahnärztetages im Rahmen der Kongress-Eröffnung, „und sie wurde sicher unter Wert gehandelt.“ Vor rund 15 Jahren, als er die Chefredaktion eines entsprechenden Fachjournals übernommen hatte, sei es noch undenkbar gewesen, dass Endodontie einmal Hauptthema eines Zahnärztetages werden könnte. Die Bescheidenheit mag mit dazu beigetragen haben – oder auch die Überlastung, ein so großes Thema auf vergleichsweise wenigen Schultern an den bundesweiten Hochschulen stemmen zu müssen: Journalistische Anfragen an die Wissenschaftler zu neuen Entwicklungen in der Endodontie stießen im Vorfeld des Zahnärztetages nicht gerade auf Begeisterung.

Dabei hat das Fach erstens eine enorme Bedeutung im Praxisalltag:
Wurzelbehandlung, ein Schwerpunkt der Endodontie, gehört zum Standardspektrum in den Praxen, einige Zahnärzte geben Endodontie mittlerweile sogar als „Tätigkeitsschwerpunkt“ an, in Berlin sind das derzeit 25 Praxen, wie Kammerpräsident Dr. Wolfgang Schmiedel in seinem Grußwort zur Eröffnung berichtete. Zum anderen sind die Erfolge beeindruckend. Professor Löst: „Die Erfolgsquote hat sich in wissenschaftlichen Studien auf 80 bis 90 % eingependelt, teilweise liegt sie sogar noch höher.“ Grund für diesen bei medizinischen Verfahren ungewöhnlich hohen Erfolg sei einerseits die Entwicklung neuer Technik, aber „wir wollen die Endodontie keinesfalls auf technische Parameter reduzieren – sie ist die Wissenschaft von der Verhütung, dem Erkennen und der Therapie von Wurzelkanalerkrankungen.“ Auch hier habe sich vieles optimiert. Kollegen, die vor der Behandlung in der Tiefe des Zahns zurückschrecken, gab er mit auf den Weg: „Es ist ein interessantes Thema – und wenn man es kann, kann es auch sehr viel Spaß machen!“ und leitete damit über zu dem hilfreich aufgebauten Fortbildungsprogramm, das seine Zuhörer quasi step-by-step an die Hand nahm. Die Beiträge spannten sich von Maßnahmen zum Erhalt der vitalen Pulpa über Vorbereitungen zur Wurzelkanalbehandlung, Bestimmung der Arbeitslänge und Empfehlungen zur Wurzelkanalaufbereitung über weitere Detailaspekte bis hin zu Desinfektion und Füllen des Wurzelkanals und allgemeinmedizinische sowie technische Aspekte. Das Vortragsprogramm im ICC haben über 800 Zahnärzte verfolgt.

Ausschnitte aus dem Fachprogramm

Vorbereitung: Mit strukturiertem Protokoll erfolgreicher
Das A und O des Behandlungserfolges liege in der Infektionskontrolle, erklärte Dr. Thorsten Neuber/Münster, und in der Einhaltung eines einfachen, aber strukturierten Behandlungsprotokolls, dessen wirtschaftlicher und zeitlicher Aufwand gegen Null gehe. Bereits vor der Behandlung solle man beispielsweise keimreduzierende Spüllösungen (CHX) einsetzen und mit PZR das Risiko von außen eindringender Keime minimieren. Für die Vorbehandlung kalkuliere er viel Zeit ein: „Sie frisst gut ein Drittel meiner Behandlungszeit.“ Bei einer erhaltungswürdigen Krone plädierte er für die Trepanation durch die Krone – gehe diese verloren und damit auch der Referenzpunkt, sei dies höchst ärgerlich. Vorgestellt wurden Hilfsmittel zur schonen Entfernung von Kronenrekonstruktionen und Instrumente, die einen Kronenverlust weitgehend verhindern, sollten daher zum Repertoire gehören, ebenso wie die Errungenschaften der Moderne wie thermoplastische Fülltechniken, OP-Mikroskop, Kariesdetektor, adhäsive Aufbaufüllungen, Kofferdam. Das Ziel allen Bemühens sei ein dichter provisorischer Verschluss: „Der ist allerdings nur scheinbar eine Banalität...“

Arbeitslänge: Apikale Konstriktion als Orientierungspunkt
„Oft ist die Distanz zwischen Erfolg und Misserfolg sehr klein“, meinte Dr. Christoph Huhn/Dessau, und widmete diesem kleinen Bereich bei devitalen Zähnen seine Aufmerksamkeit. Wenn der Kanal zwar breit, aber nicht tief genug aufbereitet sei, sei ein Misserfolg vorprogrammiert. Der Endpunkt der Aufbereitung sei nicht unumstritten, die im Zusammenhang mit der Arbeitslänge oft zitierte apikale Konstriktion nicht in jedem Fall vorhanden – dennoch biete sie, notfalls geschätzt, einen guten Anhaltspunkt: „Wenn die Konstriktion, der engste Querschnitt des Pulpagewebes, fehlt, befindet sich die Füllung wenigstens im Zielbereich.“ Beachten sollten „Einsteiger“, dass Kanalausgang und Wurzelspitze zwei verschiedene Dinge seien. Die apikale Konstriktion könne bis zu 3 mm von der Wurzelspitze entfernt liegen: „Das sind nach endodontischen Maßstäben Kilometer.“ Zur Längenbestimmung empfahl er die elektrometrische (endometische) Überprüfung der Arbeitslänge auf der Basis einer diagnostischen Röntgenaufnahme – Endometrie gehe auf über 60 Jahre alte Erkenntnisse zurück und sei der alleinigen Röntgenmessaufnahme überlegen. Auf das eigene taktile Empfinden, auf das mancher Behandler stolz sei, solle man sich lieber nicht verlassen. Ganz unsinnig sei die Schmerzempfindung des Patienten als ‚Längenmesser’: „Dies sagt uns gar nichts, wir behandeln daher routinemäßig unter lokaler Anästhesie.“ Zu beachten sei, dass die endometrische Messung ein feuchtes Umfeld benötige – der Wurzelkanal solle weder „geflutet noch wüstentrocken“ sein, um Messfehler zu vermeiden; die ideale Feilgröße entspreche dem Durchschnitt des Foramen apicale.

Wurzelkanalaufbereitung: Auch Kanalwände beachten
Das Ziel der Wurzelkanalaufbereitung sei nicht nur, das geschädigte Pulpa-Gewebe zu entfernen, erklärte Prof. Dr. Roland Weiger/Basel: “Auch zementnahe Abschnitte in der Kanalwand können infiziert sein, diese bekommen wir nicht allein mechanisch entfernt.“ Moderne Technik liefere heute mehr Informationen als noch vor Jahren, das sei wichtig, weil Wurzelkanäle sehr individuell sein könnten: Mancher Wurzelkanal spalte sich im unteren Bereich in zwei Kanäle auf, zudem könnten Wurzelkanäle miteinander kommunizieren. Professor Weiger: „Fragen Sie sich also prinzipiell: Was für einen Zahn habe ich vor mir, welche Besonderheit könnte auftreten, die mir das Röntgenbild nicht zeigt?“ Bei der technischen Aufbereitung solle man sich auf die Hauptkanäle konzentrieren. Die neuen Titan-Nickel-Instrumente seien sehr elastisch und empfehlenswert („ein Quantensprung in der technischen Erleichterung“), die Unterschiede bei den verschiedenen Anbietern nicht allzu groß. Zu den modernen Verfahren gehöre auch die „Crown-down-Technik“, bei der die Aufbereitung mit konischen, kleiner werdenden Instrumenten von oben allmählich in die Tiefe vordringt. Die Auswahl an Instrumenten sei sehr groß, Studien über die Vor- und Nachteile noch nicht abgeschlossen, er selbst nicht sicher, ob nun Schneidkanten, Kufen oder andere Formen am besten seien. Professor Weiger empfahl das „Studieren“ verschiedener Systeme, da vermutlich die Vielfalt und damit der Einsatz in individuell verschiedenen Situationen der richtige Weg sei. Trotz aller modernen Technik sei man derzeit noch gar nicht in der Lage, alle Kanalwände zu bearbeiten, über ein Drittel unbearbeitete Wände, vor allem bei Krümmungen, seien nicht selten, dies müsse berücksichtigt werden. Dennoch: Mit den heute verfügbaren Instrumenten könne man, so seine Erfahrung, „gut und zuverlässig aufbereiten.“

Desinfektion: Balance auf einem schmalen Seil
Gar nicht so unproblematisch wie man dies vermuten könnte ist die Desinfektion des Wurzelkanals, das machte Prof. Dr. Michael Hülsmann/Göttingen und zweiter wissenschaftlicher Leiter des Berliner Zahnärztetages deutlich. Die Spülflüssigkeit müsse bis ins Dentin reichen, dürfe die Kanalwand aber nicht schwächen. Wenn 30 bis 40 % der Kanalwand nicht mit einem Instrument in Kontakt komme, liege hier eine große Aufgabe für die chemische Desinfektion. Smearlayer schütze infiziertes Dentin und lasse dahinter die bedürfnislosen Bakterien gut übereben. Bei der Frage der Spülung meinte Professor Hülsmann: „Wasserstoffperoxid ist eine psychogene Spülung – man denkt, weil es blubbert, täte sich da was.“ Mittel der Wahl sei Natriumhydrochlorit („das reicht und man macht nichts falsch“), es löse sowohl nekrotisches als auch vitales Gewebe auf und sei gut antibakteriell; bei einer Konzentration von 0,5 bis maximal 3 % sei man auf dem schmalen Seil zwischen antibakterieller und gewebeschädigender Wirkung „im grünen Bereich“. Das Erwärmen sei eher ein kultisches Ritual, schade aber auch nicht, wenn man die Lösung gleich verwende. Grenzen habe die Wirksamkeit bei „unserem derzeitigen Lieblingskeim“, Enterococcus faecalis, und bei mancher Candida-Spezies. E. faecalis dringe tief in die Tubuli ein und könne nur durch eine länger wirkende antibakterielle Lösung zerstört werden. Zum Entfernen der Schmierschicht bei gleichzeitiger relativer Schonung der Kanalwände sei Zitronensäure ein preiswertes, recht effektives Mittel, effizienter seien die MTADs (Tetracyclin Acid Detergens), die antibiotisch wirkten, mit Säure und Oberflächenentspannern reinigten - sie seien eine gute Ergänzung zu Natriumhydrochlorit. Problematisch sei der Biofilm („der ist im Wurzelkanal schlimmer als im Kühlschrank“), dieser sei nur chemisch aufzulösen, was spezieller Spüllösungen und einer langen Einwirkzeit bedarf (mindestens 30 Minuten), allerdings verändere die Lösung auch das Dentin und schwäche die Wurzel. Professor Hülsmann zu Ozon: „Ob uns das in der Endodontie wirklich hilft ist noch nicht genug geprüft derzeit.“

Füllung: Kein Material für alle Anforderungen
Die Aufgaben für eine Wurzelfüllung seien klar: den verbliebenen Bakterien die Chance zur Vermehrung nehmen, den Lebensraum verschliessen, Dimensionsstabilität und dazu Biokompatibilität zu zeigen – allerdings erfülle kein Produkt alle genannten Erwartungen. Nach wie vor sei Guttapercha in dieser Hinsicht ein guter Werkstoff, sagte Dr. Tina Rödig/Göttingen, wenn auch kein idealer. Es sei in kaltem und in warmem Zustand einsetzbar und könne „individualisiert“ werden. Das enthaltene Zinkoxid wirke zudem antibakteriell. Beim Einsatz in erwärmter Form müsse unbedingt beachtet werden, dass die Füllung beim Erkalten schrumpfe, sie müsse daher vorsichtig verdichtet werden. Da sich Guttapercha nicht sterilisieren lasse, müsse sie desinfiziert werden, es reiche, sie in Alkohol oder CHX einzulegen und das Mittel nachher zu verpusten. Bei der Frage der Sealer riet Dr. Rödig von solchen mit Medikamentenzusatz ab, sie könnten zu Nekrosen führen. Zu den empfehlenswerten Sealern gehörten die Salizit-Produkte, die bei guter Biokompatibilität gute Erfolge zeigten, ebenso Epoxidharz-Sealer; für die neuen Polysiloxan-Produkte lägen noch keine Langzeitstudien vor, sie seien sicher eine interessante Alternative. Zum Einbringen der Sealer ziehe man am besten den Masterpoint durch den Sealer, rolle auf einer Glasplatte den Überschuss ab und bringe den Masterpoint dann ein. Bei den Hinweisen zu kalten und warmen Fülltechniken, zum richtigen Umgang mit ThermafilR und Injektionstechniken per Kartusche berichtete Dr. Rödig auch über vielversprechende Tests mit dem neuen Produkt Gutta-Flow, einer kalten, fliessenden Guttapercha. Unentschlossen ist derzeit offenbar die Forschung zu Adhäsivtechniken im Wurzelkanal, die sowohl Überlegenheiten gegenüber Guttapercha attestierten als auch Schwächen: „Aber es ist sicher eine gute Idee!“ Wichtiger als die Frage, welches Material und welche Fülltechnik die beste ist, sei eine exakte Ausführung und korrekte Applikation in ausreichender Tiefe mit dem Ergebnis einer ebenso homogenen wie dichten Füllung: „Sie müssen einfach Verschiedenes ausprobieren – die richtige Füllung ist auch die, die zu Ihrer Präparation passt.“

Kofferdamm – ja oder Nein?
Das derzeit lebhaft diskutierte Thema ‚Kofferdam’ zog sich auch durch viele der Vorträge beim Berliner Zahnärztetag, ohne speziell diskutiert zu werden. Hier einige Beispiele dazu: „Kofferdam ja ab Behandlung im pulpanahen Dentindrittel“ (Dammaschke/Münster), „Einfacher und wirtschaftlicher kann man Infektionen nicht vermeiden“ (Neuber/Münster), „Es geht schneller, Kofferdam anzulegen, als manchen Kollegen vom Sinn davon zu überzeugen“ (Hülsmann/Göttingen), „Kofferdam ist der leichteste Weg zur erfolgreichen Desinfektion“ (Hülsmann/Göttingen).
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